Hallo, meine Lieben!
ich hatte schon eine ganze Weile vor, diesen Post zu tippen und wusste nie so recht, wie ich anfangen soll und wohin das Ganze führt. Da ich den Inhalt aber so wichtig finde, sitze ich also an diesem Pfingstsonntag hier vor meinem Laptop und schreibe einfach meine Gedanken nieder. Das soll kein politischer Artikel werden, denn dafür habe ich schlichtweg zu wenig Ahnung, um einen fundierten Bericht abzuliefern. Aber ich habe eigene Gedanken und eine Geschichte, die ich teilen möchte. Dafür muss ich etwas ausholen, also entschuldigt bitte den langen Post und doch hoffe ich, dass sich einige bis zum Ende durchkämpfen.
Erinnerung
Letzten Monat besuchte ich meine Freundin in Weimar und zufällig war genau an diesem Wochenende das 70jährige Jubiläum zur Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald. Neben einem vollen Wochenende zwischen Frühstücksdates, Nachmittagsausflügen, viel Gelächter, Grillen und tollen Gesprächen, nahmen wir uns also vor, auch den Gedenkfeierlichkeiten unter dem Motto "Alles wieder gut?" im DNT einen Besuch abzustatten. Auf dem Programmzettel stand etwas von moderierten Interviews mit Überlebenden. Da wir beide uns sehr für die Thematik interessieren und ich mir als angehende Geschichtslehrerin die vermutlich nie wiederkehrende Gelegenheit, Berichte aus erster Hand anzuhören, nicht nehmen lassen wollte, sind wir also losgezogen.
Dort angekommen, traf uns dann etwas der Schlag, als wir zunächst ins Foyer liefen und dort überall kleine Tischchen mit Namensschildern aufgestellt wurden. Uns dämmerte so langsam, dass es keine moderierten Interviews auf der Bühne geben würde, denen wir im Publikum lauschen könnten, sondern tatsächlich WIR selbst UNSERE Fragen an die Zeitzeugen stellen würden. Als wir dann einen älteren Herren in seiner originalen KZ-Häftlingskleidung dort sitzen sahen, waren wir ziemlich befangen. Wir fühlten uns auf einmal komplett naiv und obwohl uns so viele Fragen im Kopf umherschwirrten, wussten wir doch nicht, wie wir sie stellen sollten. Was fragt man einen Menschen, der so viel Grausamkeit über sich ergehen lassen musste? Welche Fragen sind angebracht, in welcher Form drückt man diese aus? Und wo ist die Grenze? So klein und unwichtig wir uns auch mit unseren Fragen fühlten, fassten wir uns doch ein Herz und setzten uns an einen Tisch zu einem nunmehr in Kanada lebenden Zeitzeugen...
Nachdem wir 1,5 Stunden mehreren Menschen lauschten und die unterschiedlichen Lebensgeschichten hörten, fühlten wir uns bis zum Rand gefüllt mit Informationen, Schicksalsschlägen, schlimmen Geschichten, aber auch positiven Momenten. Denn wenn man eins sehen konnte, war das Hoffnung und Dankbarkeit. Ich weiß nicht, warum ich automatisch ein Bild eines traurigen, alten Menschens im Kopf hatte, wenn ich an Zeitzeugen dachte, aber Fakt war, dass diese Menschen neuen Mut gefasst haben. Nach einer dunklen Phase ihren Lebens, die sie niemals richtig abschütteln konnten, trotzdem nach vorne blickten. Auch wenn sie teilweise die komplette Familie verloren haben und daran zerbrochen sind, begannen sie schließlich Jahrzehnte später langsam ein neues Leben aufzubauen. Eine eigene Familie zu gründen, Leidenschaften zu entwickeln, Lebensmut zu fassen und die traurigen Momente in eine kleine Kammer zu schließen, um diese ab und an zu öffnen. Vor uns standen Männer und eine Frau, die zutiefst betrübt und teilweise zum ersten Mal seit 70 Jahren wieder an den Ort ihrer grausamsten Erinnerungen zurückgekehrt sind, um die Möglichkeit wahrzunehmen, uns jungen Leuten davon zu berichten. Fragen zu beantworten, als Chance, solche dunklen Flecken der Geschichte nicht zu wiederholen. Um längst vergangene Taten in Erinnung zu behalten und nicht einfach abzutun, weil 70 Jahre vergangen sind. Vor uns standen Männer, die trotz alldem vor Lebensfreude strotzten, von ihren Freizeitaktivitäten erzählten, im Anschluss an all die Erzählungen ein Bierchen tranken und lebten.
Und was nehmen wir daraus mit?
Wir beide fühlten uns in dem Moment sehr dankbar für dieses Erlebnis. Dass wir die Geschichten hören durften, völlig fremde Menschen sich einfach vor und für uns öffneten. Interessanterweise äußerten die Herren immer wieder, wie dankbar sie seien, uns ihre Geschichten zu erzählen. Dass es junge Menschen gibt, die sich dafür interessieren und als Überbringer dienen, wenn sie selbst einmal nicht mehr am Leben sind, um ihre Erlebnisse zu teilen. Dass es wichtig ist, dass wir uns anhören, was geschehen ist, um nicht zu vergessen. Und letztlich, dass darin Menschlichkeit liege. Sich das Leid anderer anzuhören, die Augen nicht zu verschließen - selbst nach so vielen Jahren nicht - und zuzuhören.
Ihr merkt vielleicht schon, dass es sich dabei um einen ganz speziellen Moment handelte, aus dem man so viel lernen kann. Geschichte ist nicht nur ein verstaubtes Lehrbuch, Daten und Stichpunkte im mehr oder weniger ordentlich geführten Schulhefter. Geschichte ist ein Warnzeichen, eine Möglichkeit, aus alten Fehlern zu lernen und unsere Zukunft dementsprechend zu formen. Und doch leben wir in einer Welt, in der in jedem Winkel Grausamkeiten geschehen. Ob das hier um die Ecke oder auch in größerer Form terroristischer Taten in entfernten Ländern der Welt ist. Im Alltag in der Straßenbahn oder beim Bäcker, wenn man fremdenfeindliche Äußerungen hört. Wenn Vorurteile geschürt und unreflektiert weitergetragen werden, wenn pauschalisiert wird und keine Differenzierung erfolgt. Wenn man persönlichen Frust und Misserfolg im Leben konzentriert und mit voller Kraft gegen irgendeine Menschengruppe feuert, um sich selbst besser zu fühlen.
Die Ursachen umfassender Probleme an den falschen Stellen zu suchen, Menschen über einen Kamm zu scheren und eine untolerante Anti-Haltung einzunehmen. Das ist verletzend und vor allem gefährlich. Wir sind eine multikulturelle, globalisierte Nation, die davon lebt, Einflüsse aus anderen Kulturen zu integrieren. Dieser Mischmasch macht Spaß, kann bereichern und sollte nicht zum Katalysator eigener Wut werden. Es tut weh, wenn man Tochter eines syrischen Vaters ist und Menschen neben einem über "diese Ausländer" schimpfen, die faul seien und vom Staat leben, kennt man genug Gegenbeispiele. Es tut weh, wenn man die Nachrichten anstellt und sieht, wie unschuldige Menschen minütlich irgendwo auf der Welt in den Tod gestürzt werden. Es tut weh, wie kleine Dörfer im Nirgendwo von Terroristen, blind vor Hass, zerstört werden und man nichts dagegen tun kann, außer zu hoffen, dass die eigene Verwandtschaft - so weit entfernt sie auch ist - nicht von diesem Wahnsinn getroffen wird.
Umso wichtiger ist es, sich zu erinnern, Negativbeispiele ins Gedächtnis zu rufen, um nicht die selben Fehler zu begehen. Damit meine ich nicht mal nur das Kapitel Holocaust, sondern auch so viele andere Ereignisse. Auch wenn nicht jede Buchseite der Geschichte von Intoleranz und Grausamkeit gezeichnet ist, treffen wir sie viel zu häufig an. Intoleranz gegenüber Menschengruppen, Ethnien, Religionen, die auch heutzutage wieder Zündstoff für neue Kriege und Konflikte bieten.
Mir ist klar, dass diese Konflikte tief verwurzelt sind in dieser Gesellschaft und ich nicht mit einem kleinen Text wie diesem die Welt ändern kann. Aber man kann Bewusstsein schaffen. Dazu aufrufen, aufeinander zuzugehen, offen zu sein, für fremde Ansichten und Kulturen und vor allem, sich zu erinnern.
Die Änderung beginnt nämlich schon im Kleinen, dass sich junge Menschen, wie du und ich, interessieren, Veranstaltungen besuchen, sich weiterbilden, lesen, an Gedenkfeiern teilnehmen, zeitgeschichtliche Ereignisse verfolgen, die politische Stimme nutzen, Meinungen diskutieren und vor allem Fragen stellen. Ob das wie in meinem Fall an Zeitzeugen gerichtete Fragen waren oder vielleicht auch im Privaten versucht wird, dem Opi eine Erinnerung zu entlocken. Ob das Fragen sind an Menschen mit mehr Ahnung, die einem doch erklären sollen, was da in der Welt vor sich geht. Bis man bereit dazu ist, auch zu hinterfragen. Nicht nur das Fremdverhalten, sondern auch das eigene. Und wie so oft im Leben ist es so, dass ein einzelner Mann keinen Unterschied von heute auf morgen machen kann, nehmen es sich aber mehrere zu Herzen, kann daraus Veränderung entstehen.
Entschuldigt bitte den mega langen Text, aber mir war es wichtig, diese Gedanken zu teilen. Falls ihr bis zum Ende durchgehalten habt, würde ich mich freuen, wenn ihr mir in den Kommentaren eure Meinung schildert. Habt ihr schon einmal die Chance wahrnehmen können, Zeitzeugen zu befragen? Engagiert ihr euch irgendwo, um etwas Gutes zu schaffen? Habt ihr irgendwo schon einmal Fremdenfeindlichkeit erleben müssen? Lasst mir also gerne einfach eure Gedanken zum Thema da. Denn ich würde mich freuen, wenn wir hier neben all den schönen Dingen, auch ab und an ein Plätzchen für solche Diskussionen einräumen können.